Was nach Widerspruch klingt, erklärt Allgemeinmediziner Dr. Christian Maté, FH-Lektor für „Digital Healthcare“ und früherer Geschäftsführer von netdoktor.at, mit mehr Zeit des Arztes durch künstliche Intelligenz für seine Patienten. Das wollten wir genauer wissen. Von Karin Podolak
Künstliche Intelligenz und „Big Data“ sorgen bei weiten Teilen der Bevölkerung für Unsicherheit, besonders, wenn es um so sensible Bereiche wie Medizin und Pflege geht. Wie kann es sein, dass Computerprogramme zu mehr Zuwendung führen sollen?
Weil sie den Arzt von Bürokratie und Routinearbeit entlasten. Damit kann er sich wieder mehr dem Patienten zuwenden, was ja seine eigentliche Aufgabe ist. Auch im Spital wird derzeit wahnsinnig viel Zeit damit verbracht, Befunde zu suchen, in den Laptop zu schauen, Termine zu vergleichen. Die Fragen und Ängste eines Patienten haben hier keinen Raum. Das erleben vor allem ältere Menschen schmerzlich. Würden diese Routinearbeiten und Abläufe von Künstlicher Intelligenz (Anm.: in der Folge KI abgekürzt) übernommen, würde dies die Medizin menschlicher machen. Davon bin ich zutiefst überzeugt.
Bei welchen Untersuchungen könnte man dies aus heutiger Sicht am besten anwenden?
Eigentlich bei allen, aber ein gutes Beispiel ist die Bildbefundung: Aufnahmen von Röntgen, MRT, Ultraschall. Bei Letzterem ganz besonders. Ultraschall ist ein großartiges Instrument, benötigt beim Auswerten und Interpretieren aber viel Erfahrung. Solche Spezialisten sind aber nicht überall und ausreichend verfügbar. Die modernen Systeme mit KI-Unterstützung helfen hier bereits jetzt schon enorm.
Wie darf man sich so einen Ablauf in der Ordination vorstellen? Wird man mit einem Roboter sprechen?
Nein, der Arzt ist und bleibt Ansprechpartner! Die Digitalisierung dient eben als Instrument zur Qualitätsverbesserung und Zeitersparnis. Es gibt mehrere 1000 Erkrankungen, dazu noch einmal unzählige seltene Leiden, da ist es kaum möglich, den Überblick zu bewahren. Hier steht uns eben ein hoher Qualitätszuwachs bevor. Alles, was ich jetzt berichte, setzt selbstverständlich guten und verlässlichen Datenschutz voraus! Das ist machbar und realistisch, aber darum müssen sich andere Spezialisten kümmern.
Zwischen Arzt und Patienten könnte es z.B. so ablaufen: Beim Anamnesegespräch „hört“ die KI mit und überträgt die Schlüsselwörter in das System. Die aktuellen Beschwerden des Patienten können nun gemeinsam mit den vorliegenden Befunden und allfälligen Vorerkrankungen vom Algorithmus ausgewertet werden. Bereits während der Anamnese kann das Programm Vorschläge machen, etwa zusätzliche Fragen oder Untersuchungen anregen, um die Beschwerden des Patienten diagnostisch weiter einzugrenzen. Das machen die Mediziner ja eigentlich auch so, nur dass eine Person, nicht einmal ein ganzes Team, nicht alle Eventualitäten jederzeit präsent haben kann. Das erspart etwa Patienten mit seltenen Erkrankungen oft lange und häufige Arztwege.
Welche Rolle kann die KI bei der medikamentösen Behandlung spielen?
Eine KI hat alle Datenbanken mit den neuesten Studienergebnissen, Empfehlungen aus Leitlinien oder Informationen über Neuzulassungen zur Verfügung und kann diese in Echtzeit einfließen lassen. Das schafft man mit keiner Weiterbildung und keinem Kongressbesuch in Eigenregie. Damit wird die Brücke von der Wissenschaft bis zur Praxis schneller geschlossen, und das wird eine dramatisch bessere Medizin bedingen.
Mit der Aussicht auf mehr Zeit für den Patienten?
Genau, aber die Ärzte müssen dann auch den Mut und die Fähigkeit haben, auf den Patienten zuzugehen. Bis jetzt konnte man sich leicht hinter dem Zeitmangel verstecken. Das muss natürlich in die Ausbildung einfließen, mit stärkerem Fokus auf Soft Skills (Anm.: soziale Kompetenz) wie Gesprächsführung und Empathie. Profis zeichnen sich durch ständige Selbstreflexion aus. Damit kann sich die Medizin als Beziehungsdisziplin neu erfinden. Das finde ich eigentlich ziemlich gut.
Aber es gibt auch jetzt schon Datenbanken, in denen Ärzte nachschlagen und sich mit anderen Fachleuten vernetzen sowie austauschen können.
Ja, das benütze ich auch, aber dieses Wissen liegt nicht individuell für den einzelnen Patienten vor.
Dafür wurde doch ELGA, die elektronische Gesundheitsakte, eingerichtet. Funktioniert die Datensammlung dort nicht?
Wir haben derzeit nur so etwas in der Art wie Dateninseln, die nicht wirklich miteinander vernetzt sind. ELGA ist derzeit eine Ansammlung von PDF Dokumenten. Das ist schon recht nützlich, abe eine zeitgemäße Aufbereitung von Wissen kann man das nicht nennen. Doppelte Untersuchungen etwa sind immer noch ein Problem.
Auch, wenn Sie als Mediziner nicht für die Datensicherheit zuständig sind, ist und bleibt das die große Unbekannte für den Endverbraucher.
Wir sind in Europa in einer guten Situation, da das Thema hier insgesamt sehr ernst genommen wird. Es stellt sich die Frage: Wie schafft man es, KI zu trainieren, wenn es keinen allgemein zugänglichen Datenpool gibt? Hier bietet sich das sg. föderale Lernen (Anm.: Maschinelles Lernen, an dem mehrere Geräte bzw. Datenstätze ohne gegenseitigen Austausch beteiligt sind) an: Die Algorithmen werden dezentral trainiert und der Lernerfolg quasi losgelöst von den Trainingsdaten auf eine zentrale KI übertragen.
Sie waren federführend an der Gründung und dem Ausbau des Internet-Gesundheitsportals „Netdoktor“ beteiligt. Seither sind die Informationen im Netz geradezu ins Unermessliche angestiegen, Stichwort „Dr. Google“. Nicht immer nur mit seriösem Hintergrund. Diagnoseprogramme und dementsprechende Apps sind ja Laien jetzt schon zugänglich. Wie kann man nun die Selbstbehandlung kanalisieren?
Ganz ausschließen kann man das nicht. Doch man braucht immer jemanden, der die Information in einen sinnvollen Kontext setzt. Und der- oder diejenige muss dafür Medizin studiert und sich damit eingehend beschäftig haben. Dafür müssen Arzt und Patient einander auf Augenhöhe begegnen. Rein funktional kann eine Maschine auf der rein kognitiven, algorithmischen Ebene einen Arzt vom Wissen her leicht überflügeln. Aber wir brauchen das Gegenüber. Der Arzt schwimmt in dem gleichen Lebensgefäß wie der Patient, wenn ich das einmal so ausdrücken darf. Das tut die Maschine nicht.
Geht von den Maschinen eine Gefahr aus, wenn man sich allein auf sie verlässt?
Auch, wenn jemand es ablehnt, einen Arzt aufzusuchen und dem Mediziner weniger vertraut als der KI, muss das nicht unbedingt sein. Spricht das System Leitlinienkonforme Empfehlungen aus, sollte das keine schlechtere Medizin sein. Aber so weit sind wir noch nicht. Und eine „general artificial intelligenz“, die so wie wir Menschen alle Fähigkeiten gleichzeitig – kommunizieren, erinnern, analysieren, Gefühle erkennen, Erfahrungen einbringen usw. – einsetzen kann, liegt wahrscheinlich noch in weiter Ferne.
In Ihrem Buch „Medizin ohne Menschen“ beschreiben Sie eine Möglichkeit der Blutanalyse ohne Blutabnahme. Das wäre ein echter Fortschritt. Aber wie funktioniert es? Das klingt für mich wie Zauberei ...
Moderne KI-Systeme können lernen, aus Parametern, die auf „unblutige“ Weise gemessen werden, also etwa über Smartwatches, auf andere schwerer bestimmbare Blutwerte zu schließen. Noch einen Schritt weiter geht die Nanotechnologie (Anm.: Nanopartikel sind winzige Partikel, mit einem normalen Mikroskop nicht sichtbar), die etwa in der Krebsdiagnostik schon verfügbar ist. Die Mini-Partikel zirkulieren im Blutkreislauf und übermitteln die entsprechenden Informationen an ein Computerprogramm. Das wird in naher Zukunft – in den kommenden zehn Jahren zum diagnostischen Alltag gehören. Unsere Kinder und Enkel werden es als barbarisch erachten, jemandem Blut abzuzapfen.
Was kommt auf jemanden zu, der diese Form der modernen Medizin ablehnt? Wird er dann nicht mehr behandelt?
Auch das habe ich in meinem Buch angesprochen: Vielleicht etabliert sich dann ein „Offline-Arzt“, der für diese Patienten in herkömmlicher Art zur Verfügung steht. Diese Ärzte haben dann gerade einmal einen Computer, um die aktuellen Leitlinien nachzulesen und dokumentieren dann die Untersuchungs- und Therapieergebnisse schriftlich in herkömmlicher Form. Ansonsten arbeiten sie auf herkömmliche Weise. Das könnte sich dann durchaus als Marktlücke erweisen.