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INTERVIEW

Wir wissen noch nicht, wohin die Reise geht

Long Covid. Erschöpft und trotzdem Schlafstörungen, ständiges Krankheitsgefühl, immer an der Grenze der – stark eingeschränkten – Leistungsfähigkeit: Facharzt Prim. Doz. Dr. Edmund Cauza warnt davor, das Gesundheitsproblem zu unterschätzen. Von Karin Podolak

Long Covid hält noch Monate nach einer Corona-Infektion an und ist für Betroffene eine enorme Belastung. Körperlich wie psychisch. Viele werden nie mehr voll in den Arbeitsprozess zurückkehren können. Dabei muss schon jetzt mit knapp 200.000 Patienten in Österreich gerechnet werden. Prim. Doz. Dr. Edmund Cauza, Facharzt für Innere Medizin, Rheumatologie und Rehabilitation, Endokrinologie und Stoffwechselerkrankungen sowie Geriatrie behandelt solche Patienten mit seinem Team im Herz-Jesu Krankenhaus in Wien sowie im niedergelassenen Bereich. 

Wie viele Long-Covid-Personen betreuen Sie derzeit? 

Wir haben im Herz-Jesu Krankenhaus in Wien ca. 450 Fälle, vor allem zunächst Post-Covid (Anm.: Symptome, die nach einer Covid-19-Erkrankung noch mindestens vier Wochen anhalten, die Patienten sind nicht mehr positiv), die unter Umständen auch zu Long Covid geworden sind. Zum Teil auch mit sehr schweren Verläufen. Anfangs waren es nur Patientinnen und Patienten aus der Intensivstation. Die haben wir noch immer. Auch Lungentransplantierte sind darunter. Jetzt betreuen wir zunehmend Corona-Patientinnen und -Patienten nach Spitalsaufenthalten – die Anzahl wird immer mehr. Das betrifft alle Altersgruppen, Frauen häufiger als Männer. 

Können Sie auf Ihrer Station im Krankenhaus die Anforderungen überhaupt noch erfüllen? 

Wir können nur unsere Patienten, denen wir verpflichtet sind, versorgen. Das geht gut, aber auch an die Grenzen auf Personalebene. Ansonsten stehen uns leider keine Kapazitäten mehr zur Verfügung. 

Mit welcher Menge an Betroffenen ist in Österreich überhaupt zu rechnen? 

In Österreich haben wir derzeit ca. 1,9 Millionen Genesene. Bei 10 % Long-Covid-Fällen sind wir also schon bei etwa 190.000 Betroffenen, das ist aber eher sehr niedrig berechnet. Die meisten Daten beziehen sich noch auf die Delta-Variante. Wie weit sich der Einfluss von Omikron BA.1 auf die Long-Covid-Entwicklung auswirken wird, lässt sich nicht schlüssig sagen, dafür ist die Zeit noch zu kurz. Diesbezüglich haben wir noch nicht viel Erfahrung. Es ist aber nicht anzunehmen, dass wir keine Fälle haben werden. 

Hängt das mit der Schwere der Covid-19-Erkrankung zusammen? 

Das kann man so nicht sagen. Bei der Delta-Version entwickelten ja auch Menschen mit leichtem Verlauf eine Langzeitsymptomatik. So ist es naheliegend, dass durch den Omikron-Ausbruch eine Long-Covid-Welle bevorsteht. Zumal die Infektionsfälle zahlenmäßig viel mehr sind. Dabei handelt es sich um ganz andere Dimensionen und da wissen wir noch nicht, wo die Reise hingeht. 

Wie definiert sich Long Covid? 

Durch Symptome, die drei Monate nach einer Infektion geblieben oder die nach einem Monat dazu gekommen sind. Die Hauptsymptomatik ist Fatigue (Anm.: Erschöpfungssyndrom), die bei mehr als der Hälfte der Patientinnen und Patienten auftritt. Sie sind nicht mehr leistungsfähig und auch nicht mehr imstande, den gewohnten Alltag zu bewältigen. Sowohl im Berufsleben als auch privat besteht extreme Beeinträchtigung. Es handelt sich dabei um einen ganzen Symptomkomplex. Kurzatmigkeit ist typisch, Schlafstörungen, kognitive Probleme (v.a. Konzentrations-, Gedächtnisschwierigkeiten), Angstzustände, Depressionen. Häufig treten zwei und mehr Beschwerden gleichzeitig auf. 

Wie lange kann so ein Zustand anhalten? 

Das geht von leichten Formen bis hin zu schwerer Ausprägung. In den schwersten Fällen bestehen ausgeprägte Symptome noch nach Monaten. Meist werden die Symptome aber doch weniger. Nicht alle verschwinden zur Gänze. Ich betreue in der Ordination Patientinnen und Patienten, die schon seit 2020 betroffen sind. Solche, die in der Blüte ihres Lebens standen und dann z. T. nicht einmal mehr die Kraft hatten, Auto zu fahren! Ein junger Mann, der manuell gearbeitet hat, verlor seinen Job, weil er nicht mehr körperlich arbeiten konnte. Hier wird man bald über Invaliditätspension oder Reha-Geld diskutieren müssen (Anm.: Prim. Cauza ist auch Gerichtssachverständiger). Da ist noch gar nichts geregelt. Bei Long Covid müssen alle Krankheitsbilder für einen Diagnoseschlüssel abgebildet werden. Auch Kinder sind übrigens vor Langzeitfolgen nicht geschützt. 

Was kann man sich unter: „chronisches Fatigue Syndrom“ vorstellen? 

Das ist nicht neu, wir kennen es z.B. aus der Rheumatologie. Bei Fibromyalgie (Anm.: chronische Schmerzerkrankung, Ganzkörperschmerz) treten ähnliche Erschöpfungssymptome auf. Auch dort ist meist ein Krankheitserreger, das Epstein-Barr-Virus, der Auslöser. Damit bin ich bereits seit 20 Jahren beschäftigt – etliche Patienten wurden nie mehr arbeitsfähig! 

Woher kommt diese Müdigkeit im Zusammenhang mit dem Corona-Virus? 

Wir müssen erst noch den genauen Krankheitsauslöser für Long Covid identifizieren. Es wird wohl das Virus selbst oder ein Bestandteil davon schuld sein. Wahrscheinlich ist eine Autoimmunreaktion, bei der das körpereigene Abwehrsystem nach Aktivierung durch die Infektion gegen sich selber arbeitet. Der Nachweis von Autoantikörpern (Anm.: körpereigene Abwehrstoffe/Antikörper, die durch Fehler im Immunsystem entstehen und Entzündungsgeschehen anstoßen) ist bereits gelungen. Die Forschung steht natürlich erst am Anfang. Folgeschäden zeichnen sich ab. Von der Delta-Variante wissen wir, dass sie die Lunge beeinträchtigt. Sie ist auch verantwortlich für massive Herz-Kreislaufprobleme. Das Thromboserisiko wird erhöht, Lungeninfarkte treten häufiger auf sowie Darmstörungen. Es werden fast alle Organsysteme beeinträchtigt. Obwohl vor allem Patienten mit Vorerkrankungen darunter leiden, sind Gesunde nicht geschützt. 

Die Zahl der Autoimmunerkrankungen steigt in der Bevölkerung generell stetig an und Long Covid wird möglicherweise darunter einzuordnen sein. 

Gibt es schon Therapiemöglichkeiten? 

Man muss empirisch vorgehen, also ausprobieren, was dem Patienten hilft. Vor allem darf man ihn am Anfang mit Therapiemaßnahmen nicht überfordern, muss einen individuellen Behandlungs- und Trainingsplan für jeden einzelnen erstellen. Ansonsten besteht die Gefahr, Fortschritte zunichte zu machen und den Patienten wieder zurückzuwerfen. Daher ist die Vernetzung unterschiedlicher Berufsgruppen und Fachrichtungen für die Betreuung so wichtig. Der eine Patient benötigt ein Geruchs- und Geschmackstraining, weil er diese Funktion nicht mehr wiedererlangt hat, ein anderer neurologische Unterstützung. Hier muss die passende Zuordnung gefunden, der jeweilige Ansprechpartner etabliert werden. 

Meines Wissens werden bereits Reha-Maßnahmen angeboten, aber nur in geringem Maße. Wird ein Ausbau nötig sein? 

Selbstverständlich! Rehazentren formieren sich. Nicht alle Betroffenen brauchen eine Reha, in schweren Fällen ist so ein Programm auch zu fordernd. Außerdem gibt es in Österreich nicht so viele Plätze, die ja auch für andere Patienten gebraucht werden. Angebote in Spitälern wären vernünftig. Wir haben das im Herz-Jesu Krankenhaus auch geplant, warten aber noch darauf, dass wir starten dürfen. An der Vernetzung von Einrichtungen wird gearbeitet, das ist aber sehr aufwändig. Es müssen viele Berufsgruppen und Fachrichtungen koordiniert werden. Das ist nicht leicht und es kostet viel Geld. 

Kann sich das Krankheitsbild ohne Therapie verschlechtern? 

Das Hauptproblem bei Long Covid ist die psychosoziale Belastung. Man wird unter Umständen (langzeit)arbeitslos, verliert den sozialen Anschluss, zieht sich zurück. Psychologische Begleitung ist immer wichtig, wenn man sein Leben nicht mehr in die Hand nehmen kann, also auch hierbei. Einen ganz wichtigen Aspekt stellt die Unterstützung durch Selbsthilfegruppen dar, der Kontakt und der Austausch mit anderen Betroffenen. 

Medikamente stehen noch keine zur Verfügung? 

Medikamentös sind wir noch schwach aufgestellt, da gibt es kaum Möglichkeiten. Das beste Medikament bzw. Prophylaxe ist die 3-fach-Impfung mit 50 %–60 % Reduktion der Fatigue, die meisten bekommen diese Symptome erst gar nicht. Die Ansteckung mit Omikron lässt sich auch mit Impfung nicht verhindern, das Risiko für Long Covid ist aber deutlich verringert. 

Geforscht wird an Arzneien, die in das Immunsystem eingreifen wie Biologika (Anm.: gentechnisch erzeugte Arzneimittel, welche Entzündungen hemmen, die durch fehlerhafte Immunprozesse ausgelöst werden), welche wir bereits seit Längerem u.a. aus der Rheumatologie kennen. Sie können auch keine Heilung herbeiführen, aber die Patienten können ein weitgehend normales Leben führen. Jetzt sind einmal die ersten Präparate gegen die akute Infektion da und noch keine gegen Long Covid. 

Stichwort: Eine Hoffnung für die nahe Zukunft? 

Es gibt bereits Substanzen für den Heimgebrauch. Das Problem: Man soll sie ganz am Anfang nach der Infektion einnehmen, bevor sich das Virus vermehrt. Nach der Ausbreitung im Körper ist das nicht mehr angezeigt. Als Arzt muss man eine Risiko-Nutzen-Rechnung aufstellen, denn diese Mittel haben ja Nebenwirkungen. Bei leichten Beschwerden, wie Omikron sie meist auslöst, braucht man das nicht zu riskieren. Antikörpertherapien wiederum sind nur für schwere Fälle sinnvoll und keine Prophylaxe. Aber wir hoffen auf ein Medikament, das auch in diese Richtung breiter einsetzbar ist. 

Wohin sollen sich Menschen wenden, wenn sie glauben, Folgeschäden durch die Covid-19-Erkrankung erlitten zu haben? 

Die ersten Ansprechpartner sind die Allgemeinmediziner. Von dort wird dann je nach Beschwerdebild an den dafür zuständigen Facharzt überwiesen. Wenn man eine Infektion durchlaufen hat und nach vier bis acht Wochen immer noch keine Genesung erfolgt ist, macht es Sinn, nachzuschauen, warum das so ist. Generell sollte jeder bei längerer Beeinträchtigung der Lebensqualität etwas zur Verbesserung tun. 

Die Long-Covid-Diagnose stellt für viele einen Schock dar, aber ohne Abklärung leiden die Betroffenen noch mehr. Es kann ja niemand etwas dafür, wenn er erkrankt, man weiß vorher nicht, wen es trifft. 

Können wir jetzt Ihrer Meinung nach auf eine Abschwächung des Virus hoffen? 

Bei uns sollte sich das Virus tatsächlich langsam abschwächen. Worst Case wäre, wenn sich die Infektiösität der Omikron-Variante BA.2 mit Delta verbinden würde – das ist im Moment aber nicht zu erwarten. Was in einem halben Jahr passieren wird, kann ich natürlich nicht sagen. Aber: dreifach geimpft wird uns im Herbst helfen. Nur damit bauen sich Gedächtniszellen auf. Man braucht, um den Impfschutz zu entwickeln, fast ein halbes Jahr. Also jetzt impfen für die Zeit nach dem Sommer! 

Das Virus wird sich nicht von selbst „vertschüssen“ und sagen, „Ich will nicht mehr“. In vielen Ländern dieser Welt, v.a. in Afrika, wo sich die Durchimpfungsrate im einstelligen Bereich befindet, wird SARS-CoV-2 sich weiter ausbreiten und alle Mutationen bilden, die möglich sind. Dafür reicht das griechische Alphabet sicher nicht aus. Auch in den USA wütet das Virus. Mit wieder einsetzender Reisetätigkeit wird das auch für uns in Europa ein Problem. 

Also bleibt Maskentragen eine wichtige Schutzmaßnahme? 

Auf den Schutz durch Masken zu verzichten, kommt einer bewussten Durchseuchung gleich. Eine politische Maßnahme, die für mich medizinisch nicht nachvollziehbar ist. FFP2-Masken bieten im Vergleich zu einfachen Mund-Nasen-Masken einen sehr effizienten Schutz, das gilt als erwiesen. Auch für einen selbst. Aber es ist natürlich schon verständlich, dass es die Leute nicht mehr freut. 

Und was sagen Sie jenen, die es gezielt auf eine Ansteckung ankommen lassen, unter den Tenor: dann hab ich es hinter mir? 

Sie haben mit der Omikron-Infektion nahezu keinen Infektionsschutz. Das zählt nicht. Die Antikörperproduktion und das Immunsystem sind hier nicht sehr gefordert. Sie können sich nach spätestens vier, fünf Wochen wieder anstecken, z.B. jetzt mit der BA.2-Version. Ich kenne Leute, die sind schon zum dritten Mal neu positiv.

HIER FINDEN SIE HILFE:

Eine betroffene Patientin gründete nun die erste Selbsthilfe-Gruppe: LONG COVID AUSTRIA. Auch für Kinder gibt es nach britischem Vorbild seit Kurzem eine eigene Plattform (www.facebook.com/groups/longcovidkidsat) www.longcovidaustria.at

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